Elfenbeintafeln (Spolien) - BSB Clm 10077#Einband, Vorder- und Rückdeckel

Aus Prachteinbände
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Signatur Clm 10077#Einband
Maße 182 mm x 67 mm
Datierung 3. Viertel 9. Jh.
Ort Île-de-France / Champagne.
Objekttyp Elfenbeinschnitzerei
Katalogisierungsebene Spolie (component)
Klassifizierung Kategorie:Schnitzkunst
Kategorie Westliche Prachteinbände

Beschreibung: Caroline Smout. Bayerische Staatsbibliothek, 2017.


Durch das hochrechteckige Format stehen die beiden Elfenbeintafeln des Vorder- und Rückdeckels im Traditionszusammenhang spätantiker Diptychen. Clm 10077#Einband

Informationen zum Trägerband

Überliefert mit: Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 10077 : Sakramentar mit Ritualeanhang, Deutschland, vermutlich Corvey, vor 983


Entstehung

3. Viertel 9. Jh., Île-de-France / Champagne (Palastschule Karls des Kahlen).


Maße

182 mm x 67 mm


Material und Technik

Vorderdeckel:

Elfenbeintafel mit figürlicher Darstellung in Halbrelief. Die Tafel liegt in einem vertieften Feld des Deckels, das der Größe der Tafel entspricht, so dass er für die Tafel angefertigt sein dürfte; zumal „die Holzart, die radiale Schnittart, die Deckelstärke und die einfache Bearbeitung der Deckelkanten“ typisch für die Entstehungszeit der Handschrift sind (Eckstein, Der Einband des Sakramentars aus dem Domschatz von Verdun (2017), 20. Vgl. Szirmai, The Archaeology (1999), 102f.). Die Tafel ist durch vier Silbernägel in den Ecken auf dem Holzdeckel befestigt.


Rückdeckel:

Elfenbeintafel mit figürlicher Darstellung in plastischerem Halbrelief als auf dem Vorderdeckel. Zur Einpassung und Befestigung der Tafel siehe oben unter „Vorderdeckel“.


Beschreibung des Äußeren

Vorderdeckel:

Hochrechteckige Elfenbeintafel, untergliedert in drei Bildfelder mit figürlichen Szenen. Umrahmung der Bildfelder mit Akanthusblatt-Fries (Abb. 1).


Rückdeckel:

Hochrechteckige Elfenbeintafel, untergliedert in drei Bildfelder mit figürlichen Szenen. Umrahmung der Bildfelder mit Akanthusblatt-Fries (Abb. 2).



Zustandsberichte

Vorderdeckel:

Rechts oben verläuft durch den Rahmen ein Riss fast bis zur Begrenzung des obersten Bildfeldes. Der Rankenfries des Rahmens und die figürlichen Darstellungen sind abgegriffen.


Rückdeckel:

Insbesondere der Rankenfries, aber auch die figürlichen Darstellungen sind deutlich weniger abgegriffen als auf dem Vorderdeckel. An der Figur des Erzengels Gabriel ist die rechte Hand abgebrochen.


Ikonographie

Die beiden Tafeln zeigen Szenen aus der Kindheit Christi und dem Beginn seines öffentlichen Wirkens.


Vorderdeckel:

Im oberen Bildfeld ist der Bethlehemitische Kindermord dargestellt (Abb. 3): Rechts thront Herodes, der zusieht, wie in der Mitte ein Diener ein Kind ergriffen hat, um es am Boden zu zerschmettern. Links verfolgt eine wehklagende Mutter mit erhobenen Armen das Geschehen. Im mittleren Bildfeld mit der Taufe Christi (Abb. 4) steht Christus auf der vertikalen Mittelachse im Jordan. Das Wasser, das seine Beine umspült, fließt aus einem Gefäß, das eine Figur links im Bild hält: der Jordan ist hier figürlich durch den Flussgott personifiziert. Von rechts tritt Johannes der Täufer als Hirte mit Krummstab an Christus heran und vollzieht die Taufe durch Handauflegen auf das Haupt. Über der Hand erscheint die Taube zur Ausgießung des Heiligen Geistes. Im unteren Feld, das die Hochzeit zu Kana zeigt (Abb. 5), steht Christus in der rechten Bildhälfte, begleitet von einem Jünger. Mit erhobener rechter Hand wendet sich Christus einem Diener zu, der Wasser in am Boden stehende Gefäße gießt.



In Ikonographie und Reihenfolge entspricht die Tafel einem spätantiken Diptychon-Flügel, der im 1. Drittel des 5. Jahrhunderts in Rom oder Mailand entstanden ist Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Ident.Nr. 2719 . Allerdings folgen die Darstellungen mit der Taufe Christi unterschiedlichen Bildtraditionen, die beide auf antike Vorlagen zurückgehen (vgl. Kahsnitz, Sakramentar aus dem Domschatz (1993), 320).


Rückdeckel:

Thema des oberen Bildfeldes ist die Verkündigung an Maria (Abb. 6): Der Erzengel Gabriel, angetan mit Tunika und Pallium sowie einem Botenstab in der Linken, tritt der Jungfrau Maria von links entgegen, die stehend in einer Giebel-Architektur dargestellt ist. Während Gabriel seine Rechte zum Gruß ausstreckt, empfängt Maria ihn und seine Botschaft, dass sie den Sohn Gottes durch den Heiligen Geist empfangen werde, mit geöffneten Armen. Das mittlere Bildfeld zeigt die Geburt Christi (Abb. 7): Maria lagert auf einer Kline vor der Krippe mit dem Christuskind, hinter der Krippe stehen die ungläubige Hebamme Salome sowie Ochs und Esel unter den Rundbogenarkaden des Stalls. Wie Salome, Maria und die Tiere wendet auch Joseph, der links im Bildvordergrund sitzt, seinen Blick auf das Christuskind. Im unteren Bildfeld mit der Anbetung der Könige (Abb. 8) treten diese von rechts an die links auf einer gepolsterten Bank und unter Vorhängen sitzende Maria mit dem Christuskind auf ihrem Schoß heran und überreichen ihre Gaben. Charakterisiert ist der Schauplatz durch eine auf Säulen ruhende Architrav-Architektur, die sich nicht gleicht und so unterschiedliche Räume markiert.



Stil und Einordnung

Die beiden Elfenbeintafeln sind gemäß den Übereinstimmungen in ihrer formalen, stilistischen und ikonographischen Gestalt in derselben Werkstatt entstanden.

Das erwähnte spätantike Diptychon mit seinen beiden Tafeln in Berlin (s. o.) und Paris (Musée du Louvre, Inv. Nr. OA7876, OA7877, OA7878 ), zu dem sich ikonographische Bezüge der beiden Elfenbeintafeln feststellen lassen, hat auf karolingische Elfenbeinarbeiten insgesamt eingewirkt. Dies zeigt sich unter anderem in der um 800 in der Hofschule Karls des Großen entstandenen Elfenbeintafel des Bucheinbandes von Oxford, Bodleian Library, Ms. Douce 176 , in der die Motive kopiert sind. Aufgrund weiterer Elfenbeinarbeiten ist davon auszugehen, dass der Einfluss des spätantiken Werkes nicht unmittelbar ist, sondern mittelbar über karolingische Arbeiten. Hier ist insbesondere die Elfenbeintafel des Einbandes von lat. 9393 der Bibliothèque Nationale zu nennen, die der älteren Metzer Schule zugeschrieben und in das zweite Viertel des 9. Jahrhunderts datiert wird (vgl. Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen, Bd. 1 (1914), Nr. 72; Kahsnitz, Sakramentar aus dem Domschatz (1993), 320). Die Nähe wird vor allem in der Anbetung der Könige deutlich: in der Architrav-Architektur mit den Vorhängen und der darunter thronenden Maria, der Positionierung des Christuskindes in ihrem Schoß, den von Tüchern umhüllten Gaben in den Händen der Könige. Die Annahme, dass die Bezugspunkte der beiden Münchner Tafeln in der Metzer Schule liegen, lässt sich durch ein Braunschweiger Elfenbeinkästchen (Herzog Anton Ulrich-Museum, Inv. Nr. MA 59, 3. Viertel 9. Jahrhundert) stützen, auf dem in verwandter Form die Taufe Christi dargestellt ist (vgl. Kahsnitz, Sakramentar aus dem Domschatz (1993), 321; Kahsnitz, ebd. 1993, Nr. VI-63).

Wie der Vergleich mit der Elfenbeintafel von lat. 9393 zeigt, besteht neben der ikonographischen auch eine stilistische Verwandtschaft. Sie liegt zuvorderst in der Kompaktheit der Figuren sowie den Gewandformen und der Modellierung der Falten. Doch sind die Figuren auf den Münchner Tafeln weniger dynamisch in ihrem Agieren, obschon sie ebenfalls eine spannungsvolle Bewegung zum Ausdruck bringen. In dieser Bewegtheit verweisen sie auf die Ausdrucksästhetik der sogenannten Liuthardgruppe, das heißt Elfenbeine, die sich überwiegend an Handschriften für Karl den Kahlen finden. So kann eine Tafel der Magier in Lyon (Musée des Antiques, Inv. Nr. L 403) die stilistischen Analogien veranschaulichen, wobei gerade auch auf den Fries aus breit geformten Akanthusblättern und den halbrunden Formen zwischen den einzelnen Palmetten verwiesen sei.

Dahingehend wurden die beiden Tafeln von Goldschmidt als „Abzweigung der Liuthardgruppe“ bezeichnet (Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen, Bd. 1 (1914), Nr. 67; vgl. Gaborit-Chopin, Elfenbeinkunst im Mittelalter (1978), Nr. 58: Er sieht in den beiden Tafeln „ein Bindeglied zwischen der Nachfolge der Liuthard-Gruppe und der Gruppe des David-Elfenbeins (Kat. 61, 62)“). Indem die beiden Tafeln zum einen Merkmale der Liuthardgruppe sowie solche Metzer Elfenbeine aufweisen und sich zum anderen in den Hofwerkstätten Karls des Kahlen verschiedene Stilformen der karolingischen Kunst verbinden, wurden sie zuletzt der Palastschule Karls des Kahlen zugeschrieben und ins 3. Viertel des 9. Jh. datiert (Kahsnitz, Sakramentar aus dem Domschatz (1993), 321f.; vgl. Gaborit-Chopin, Les trois fragments d’ivoire (1995), 53f., der die beiden Elfenbeintafeln dem Ende der Regierungszeit Karls des Kahlen zuordnet und um 870–880 datiert). Damit ist die ältere Auffassung von Weitzmann, der in den Tafeln ottonische Werke aus Fulda des ausgehenden 10. Jahrhunderts gesehen hat (Weitzmann, Fuldaer Elfenbeingruppe (1935), 14–18), revidiert. Durch diese unterschiedlichen Zuschreibungen werden die Bezüge zwischen den karolingischen Werken aus dem Umkreis Karls des Kahlen und der frühottonischen Kunst der Fuldaer Reichsabtei deutlich: die jüngere Kunst, der auch die Miniaturen des Trägerbandes zuzuschreiben sind, steht in der Tradition der älteren (vgl. Kahsnitz, Sakramentar aus dem Domschatz (1993), 322).


Literaturhinweise

Eckstein, Der Einband des Sakramentars aus dem Domschatz von Verdun (2017), 20.

Gaborit-Chopin, Elfenbeinkunst im Mittelalter (1978), Nr. 58.

Gaborit-Chopin, Les trois fragments d’ivoire (1995), 53–56.

Goldschmidt, Die Elfenbeinskulpturen, Bd. 1 (1914), Nr. 67.

Kahsnitz, Sakramentar aus dem Domschatz (1993), Nr. V-54.

Schnitzler, Kästchen oder fünfteiliges Buchdeckelpaar (1970), 24–32.

Szirmai, The Archaeology (1999), 102f.

Weitzmann, Fuldaer Elfenbeingruppe (1935), 14–18.

Empfohlene Zitierweise

Caroline Smout. Elfenbeintafeln (Spolien) - BSB Clm 10077#Einband, Vorder- und Rückdeckel. Bayerische Staatsbibliothek, 2017.

URL: https://einbaende.digitale-sammlungen.de/Prachteinbaende/Clm_10077_Einband_Spolie_Elfenbeintafel, aufgerufen am 27.07.2024